Wirksamkeit von Steuerbescheid nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens

Orientierungssatz:
Einem Steuerbescheid, aus dem sich unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen eine Steuererstattung ergibt, fehlt mangels Festsetzung einer Insolvenzforderung die abstrakte Eignung, sich auf zur Tabelle anzumeldende Steuerforderungen auszuwirken. Ergibt sich aus dem Saldo der festgesetzten Steuer und der durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer keine (konkret) anzumeldende Insolvenzforderung (Zahllast), wird das Finanzamt nicht Insolvenzgläubiger i.S. des § 87 InsO.

Entscheidung:
BFH, Urteil vom 05.04.2022, IX R 27/18

I.    Sachverhalt
Die nachfolgende Sachverhaltsdarstellung konzentriert sich auf den Sachverhalt, der in Bezug auf den Hauptantrag des Klägers und Revisionsklägers (der Kläger) von Relevanz ist. Mit diesem Antrag begehrt er eine Entscheidung über die interessante Rechtsfrage, ob ein nach dem Antrag auf Insolvenzeröffnung ergangener Steuererstattungsbescheid wirksam ist. Diese Rechtsfrage hat insbesondere Auswirkung auf die steuerrechtlichen Prüfungsobliegenheiten eines Insolvenzverwalters.

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen des W, welcher im Jahr 2014 Alleingesellschafter und Geschäftsführer der M-GmbH war, die wiederum Alleingesellschafterin der K-GmbH war. Die K-GmbH meldete im Dezember 2014 Insolvenz an. Das Insolvenzverfahren wurde im Februar 2015 eröffnet. Die im Dezember 2014 beantragte Eröffnung des Insolvenzverfahrens für die M GmbH wurde durch Beschluss im Februar 2015 mangels Masse abgelehnt.
Kurz danach reichte der Insolvenzverwalter eine von ihm sowie von W und dessen Ehefrau unterschriebene Einkommensteuererklärung für das Streitjahr beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) ein. Das FA führte die Veranlagung mit Bescheid für 2014 über die Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 23.12.2015 erklärungsgemäß durch. Der Bescheid setzte eine Einkommensteuer i.H.v. 28.942 € fest. Unter Berücksichtigung der einbehaltener Lohnsteuer sowie Kapitalertragsteuer ergab sich ein Erstattungsbetrag in Höhe von 2.454 €. Das FA gab den Bescheid u.a. dem Kläger bekannt. Der vom Kläger eingelegte Einspruch blieb erfolglos. Die anschließende Klage wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab.

Mit der eingelegten Revision wendet sich der Kläger gegen das Urteil des FG, mit der Begründung, dass das FA nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens grundsätzlich keine Bescheide mehr erlassen darf. Der Beklagte hält den Einkommensteuerbescheid für wirksam. Ein Steuerbescheid kann auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ohne Antrag des Insolvenzverwalters erlassen werden, wenn sich ein Erstattungsbetrag ergebe und der Bescheid nicht abstrakt geeignet sei, sich auf anzumeldende Steuerforderungen auszuwirken.

II.    Entscheidungsgründe
Der Senat folgt der Ansicht der Vorinstanz und wies die Revision als unbegründet zurück. Der Beklagte durfte den Einkommensteuerbescheid so erlassen.

Es handelt sich bei dem erlassenen Steuerbescheid nicht um einen an einem schwerwiegenden Mangel leidenden und somit um einen nach § 125 Abs. 1 AO nichtigen Verwaltungsakt. Ein solcher schwerwiegender Mangel liegt nicht in einem Verstoß gegen § 251 Abs.2 AO i.V.m § 87 InsO. Hiernach können die Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Insbesondere weist der Senat darauf hin, dass diese Vorschrift über den § 251 Abs. 2 AO auch für das Besteuerungs-, Festsetzungs- und Erhebungsverfahren gilt. Aus dieser Verweisung hat die ständige Rechtsprechung zwei maßgebliche Grundsätze herausgebildet. Zum einen, dass Steuerbescheide nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr ergehen dürfen, wenn darin Insolvenzforderungen festgesetzt werden. Zum anderen, dürfen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Bescheide mehr erlassen werden, in denen Besteuerungsgrundlagen festgestellt werden, die die Höhe der zur Tabelle anzumeldenden Steuerforderungen beeinflussen könnten. Entscheidend ist, ob er abstrakt geeignet ist, sich auf möglicherweise als Insolvenzforderungen anzumeldende Steueransprüche auswirkt.
Der Senat weist drauf hin, dass es insbesondere einem Steuerbescheid, welcher die Steuer auf 0 € festsetzt, an einer solchen abstrakten Eignung fehlt und somit nicht bei der Tabelle anzumelden ist. Zudem ist eine Steuerfestsetzung auf 0 € nicht zugleich mit der Feststellung des Ausschlusses eines Erstattungsanspruchs verbunden; denn ein Erstattungsanspruch kann sich allein auf der Grundlage eines Abrechnungsverfahrens ergeben.

Sodann nimmt der Senat dazu Stellung, dass es in der Literatur und in der Rechtsprechung als umstritten gilt, ob eine solche abstrakte Eignung auch bei einem Steuerbescheid vorliegt, welcher eine positive Steuer festgesetzt und sich --wie im Streitfall-- eine Steuererstattung nur unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen ergibt.

In der Literatur nimmt wohl die überwiegende Mehrheit an, dass die Wirksamkeit eines Steuerbescheides auch dann gegeben ist, wenn die Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen zu einem Erstattungs- oder Vergütungsanspruch führt. Hierzu wird ausgeführt, dass insbesondere in solchen Fällen, das Schutzbedürfnis der Gläubiger nicht beeinträchtigt wird.

Teilweise wird in der Rechtsprechung und in der Literatur auch vertreten, dass solche "Erstattungsbescheide" unwirksam sein. Andernfalls könne bei einem späteren Streit über die Höhe der Anrechnung eine durch diesen --ggf. zwischenzeitlich bestandskräftigen-- Steuerbescheid titulierte Insolvenzforderung entstehen. Sodann schließt sich der Senat der überwiegenden Meinung und somit auch der Ansicht der Vorinstanz an, sodass der streitgegenständliche Steuerbescheid wirksam sei.
Der erkennende Senat weist darauf hin, dass es sich bereits an einer zur Tabelle anzumeldenden Insolvenzforderung i.S. von § 174 Abs. 1 InsO mangelt. Aus Sicht des Insolvenzrechts ist insofern allein der nach Saldierung von festgesetzter Steuer und Anrechnungsbeträgen bestehende Steueranspruch zu beurteilen. Geht der Einkommensteuererstattungsanspruch --wie hier-- auf die vom Arbeitslohn des Schuldners einbehaltene Lohnsteuer zurück, wird der Rechtsgrund für den Anspruch bereits mit der Abführung der Lohnsteuer gelegt. Der Erstattungsanspruch steht dann lediglich unter der aufschiebenden Bedingung, dass am Jahresende die geschuldete Einkommensteuer geringer ist als die Summe der Anrechnungsbeträge, so dass sich gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 EStG, § 37 Abs. 2 AO ein Erstattungsanspruch ergibt.

Nach diesen Grundsätzen ist somit für die Beurteilung, ob eine anzumeldende Insolvenzforderung besteht, auf den Saldo aus der festgesetzten Steuer und der durch Steuerabzug erhobenen Einkommensteuer abzustellen. Ergibt sich aus dem Bescheid keine Zahllast und dementsprechend auch kein Leistungsgebot, kann sich das FA mit der Festsetzung auch nicht --entgegen der Vorgabe des § 87 InsO-- einen Vollstreckungstitel verschaffen. Bei dem hier vorliegenden Erstattungsbescheid greift somit nicht der Vorrang des Insolvenzrechts, sodass auf die allgemeinen Regelungen der AO zurückzugreifen ist.

Der erkennende Senat weist in seinen Entscheidungsgründen darauf hin, dass die Rechtsstellung des Insolvenzverwalters durch dieses Ergebnis nicht eingeschränkt wird. Begehrt er eine höhere Erstattung, kann er diese im Einspruchs- bzw. Klageverfahren gegen die Steuerfestsetzung geltend machen. Auch einem späteren Streit über die Höhe der Anrechnung lässt sich begegnen, und zwar entweder --wie vom FG, von Teilen der Literatur und auch vom BMF vorgeschlagen-- durch eine rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bzw. eine Erledigung auf andere Weise gemäß § 124 Abs. 2 AO (Entfallen der Befugnis, durch Verwaltungsakt zu handeln) oder dadurch, dass bereits die Rücknahme (§ 130 AO) und der Widerruf (§ 131 AO) der Anrechnungsverfügung aufgrund der vorrangigen Regelungen zur InsO gesperrt ist ("Änderungssperre").

 (Claudius Söffing, Rechtsanwalt)